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Titel
Der Blutruf (Mt 27,25). Eine schweizerische Wirkungsgeschichte 1900–1950


Autor(en)
Keller, Zsolt
Erschienen
Göttingen 2006: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
200 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
David Neuhold

Der Historiker und Theologe Zsolt Niklaus Keller legt mit diesem Band eine eindrückliche und komprimierte Studie zu einem klar umrissenen Thema, nämlich einem «paradigmatischen» und «blutigen» Bibelvers und dessen Rezeption, vor: «Da rief das ganze Volk: Sein Blut komme über uns und unsere Kinder» (Mt 27,25). Keller greift dabei auf eigene Vorarbeiten wie etwa einen Artikel aus der ZSKG von 2003 (seit einiger Zeit: SZRKG) zurück; d.h., der Autor hat sich schon über einen längeren Zeitraum fundiert mit der Thematik des Antijudaismus, einer nach Aram Mattioli «mentalen Disposition von langer Dauer» (S. 47, 126), in neuerer Zeit auseinandergesetzt.

Kellers Arbeit ist dreigeteilt: Nach einem Vorwort von Max Küchler, Professor für NT in Fribourg, beschäftigt sich der erste Teil mit grundlegenden Aspekten. Der zeitgeschichtliche Kontext – 1960 schrieb Golo Mann ironisch-zynisch: «Wenn Antisemitismus sein muss, dann ist der Antisemitismus schweizerischer Art wohl der erträglichste, zivilisierteste» (S. 75) – sowie exegetische, wirkungsgeschichtliche und terminologische Abklärungen finden Darstellung. Im Hauptteil setzt Keller den Titel der Arbeit (in der Analyse des katholischen Milieus) näher um, worauf aufbauend und darüber hinausgehend sich ein dritter Abschnitt mit der jüngsten Geschichte der Bibelexegese nach 1945 beschäftigt; also dem Umgang der nunmehr «sperrig» gewordenen Stelle und Aussage von Mt 27,25 verschrieben ist.

Der Autor arbeitet präzise, die Darstellung ist von einem sehr umfassenden Horizont gekennzeichnet. Keller sucht nun diskursanalytisch nach Spuren der besagten Matthäusstelle in der Denk- und Lebenswelt der Schweizer Katholikinnen und Katholiken und wird (in Quellenbeständen jüdischer wie katholischer Provenienz) fündig: in der Passionszeit als «jährliche Achse der Judenverfolgungen im christlichen Abendland» (Friedrich Heer, siehe S. 17, Fussnote 33), in der schweizerischen katholischen Medienlandschaft (z.B. SKZ), in der Predigtliteratur, so auch sehr konkret in einer Radiopredigt vom 3. April 1938, in der ein Pfarrer der Diözese Freiburg-Lausanne-Genf, Abbé H. Panchaud, die jüdische Schuld am «Gottesmord» darstellte. Woraufhin die SIG intervenierte und der Rundfunk sein Bedauern darüber zum Ausdruck brachte (S. 85, 86). Keller schreibt als ein Fazit seiner Analyse der umfangreichen Predigtliteratur, «dass den Theologen zu jener Zeit eine Differenzierung oder gar strikte Trennung zwischen Heils- und Profangeschichte weitgehend fremd war» (S. 92). «Durch die Schuld der Väter war jede Jüdin, jeder Jude mit der Last der Blutschuld konfrontiert» (S. 126).

Dem kultur- und religionsgeschichtlichen so bezeichneten iconic turn trägt Keller Rechnung, indem er religiöse Bilder aus Bibelillustrationen – welche in ihrer Entstehung zwar auf das 19. Jahrhundert datieren, aber in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts überaus präsent sind – heranzieht, so auch das Motiv des Umschlagbildes des sehr ansehnlich und freundlich layoutierten Bandes.

Salopp ausgedrückt könnte gesagt werden, dass der Weg von einer (historisch vielfältig konstruierten, man denke etwa nur als ein Beispiel aus dem Jahre 1492 an den «Sternberger Hostienfrevel») jüdischen zu einer (realen) christlichen Erblast nach «Auschwitz» führt.

Infolge der Lektüre der ersten beiden Hauptkapitel will der Leser mehr zur Bibelstelle und zur heutigen Situation selbst erfahren. Dem trägt Keller Rechnung. Die Verse des in der Tradition als Mensch bzw. Engel dargestellten Evangelisten sind ein Stück kontextueller matthäischer Geschichtsdeutung und -theologie, die «offensichtlich die Repräsentanten des Judentums nur noch radikal negativ und voreingenommen zu sehen» (S. 138) imstande war, auch im Vergleich zu den anderen Evangelien. Und diese Theologie (des ersten christlichen Jahrhunderts) hatte enorme ideen- und rezeptionsgeschichtliche Wirkung, wie anhand der vorliegenden Studie auf einer Deutungsebene der zeitgenössischen mörderischen Ereignisse aus schweizerischer Sicht eindrücklich gezeigt werden konnte. Von besonderem Gewinn war dem Rezensenten das Kapitel 3.2: «Verschiedene theologische Argumentationstypen in der Auslegung von Mt 27,25», das dem heutigen Umgang mit der Bibelstelle gewidmet ist und eine Synthese der neueren Herangehensweisen versucht.

Es bleibt, wie so oft, die Gefahr, dass man die Geschichte aus dem Heute beurteilt und die «Ideen» überbewertet. Umso mehr zeigt sich aber auch die Gefährlichkeit von «heiligen Schriften», die zwar in institutioneller Hinsicht von Seiten der katholischen Kirche insofern entschärft worden ist, als auf dem II. Vatikanum eine neue Hermeneutik der biblischen Texte (Dei Verbum) ermöglicht wurde, die damit aber – das steht zu befürchten – nicht gebannt ist. Dieser Möglichkeit hat Zsolt Keller mit seiner Wirkungsgeschichte des Blutrufes einen nüchternen theologischen Beitrag entgegengehalten.

Zitierweise:
David Neuhold: Rezension zu: Zsolt Keller: Der Blutruf (Mt 27,25). Eine schweizerische Wirkungsgeschichte 1900–1950. Göttingen, Vandenhoeck&Ruprecht, 2006. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 57 Nr. 3, 2007, S. 371-372.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 57 Nr. 3, 2007, S. 371-372.

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